10 Antworten zur offenen Arbeit
Was ist Offene Arbeit?
Offene Arbeit ist mehr als ein pädagogisches Konzept und erst recht mehr als ein verändertes Raumkonzept. Es handelt sich um eine Grundeinstellung zum Zusammenleben – speziell in der Arbeit mit Kindern.
Offene Arbeit bedeutet vor allem: ins Offene denken, anderes als das Gewohnte für möglich halten, offen für neue Blickwinkel und Perspektiven sein, für Umdenken und Umhandeln.
Umstrukturierungen – Raum, Zeit, Zuordnungen, Planung, Organisation und weitere Bereiche betreffend – sind Folgen veränderter Ziele und werden daran gemessen.
Im Kern geht es um eine veränderte Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen. Es geht darum, das Machtverhältnis zu reflektieren und neu zu justieren. Es geht darum, den Spuren der Kinder zu folgen und nicht gegen ihre Impulse, sondern mit ihnen zu arbeiten. Es geht darum, den Kindern einen Ort der Lebensfreude und des Abenteuers zu bieten, an dem sie Futter für ihre Neugier finden, Gelegenheiten bekommen, ihren Mut zu erproben, und auf Erwachsene treffen, die Zeit für sie haben. Es geht ebenso um soziale Verantwortung – als Teil persönlicher Freiheit.
Offene Arbeit bedeutet, eine Lobby für Kinder zu bilden, sich einzusetzen gegen Willkür und Machtmissbrauch, für die Stärkung und Sicherung der Rechte von Kindern.
Fälschlicherweise wird Offene Arbeit in der Kindertagesstätte auf strukturelle Merkmale wie Schwerpunkträume und gruppenübergreifende Kooperation reduziert. Dabei entstandene Begriffe wie „halboffen“, „teiloffen“ oder „gruppenoffen“ stiften Verwirrung. Wenn es um das Aufbrechen eingefahrener Muster und die Bereitschaft zur Reflexion und Veränderung geht, sind Vorsilben wie halb- oder teil- fehl am Platze.
Welchen Zielen und Leitgedanken folgt die Offene Arbeit?
Zentrales Ziel von Öffnungsprozessen ist es, das Streben der Kinder nach Unabhängigkeit und Eigenverantwortung zu unterstützen, ihnen alle denkbaren Chancen einzuräumen, sich in der Gemeinschaft wohl zu fühlen, sich nützlich zu machen und wirksam zu sein.
Doch Öffnungsprozesse zielen nicht allein auf die Emanzipation der Kinder, sondern auch auf die der Erwachsenen. Das Wort Emanzipation scheint etwas aus der Mode gekommen zu sein. Erinnern wir uns deshalb, was es bedeutet: So selbstbestimmt wie möglich leben, für sich und die Gemeinschaft Verantwortung übernehmen.
Ziel von Öffnungsprozessen in der Kita ist folglich, Erfahrungsräume zu schaffen, in denen geübt werden und zunehmend gelingen kann, Handlungsspielräume auszudehnen und sie in Abstimmung mit anderen Menschen verantwortlich zu nutzen.
Wie entstand Offene Arbeit in der Kita?
Offene Arbeit ist ein Konzept, das
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aus der Praxis heraus entwickelt wurde und weiterentwickelt wird;
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die Kita für alle Kinder öffnet. Niemand wird ausgegrenzt, alle gehören dazu – daher der Name „Offene Arbeit“;
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auf die Unterschiedlichkeit von Kindern und Familien mit differenzierter Arbeit reagiert;
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die Handlungsspielräume von Kindern erweitert und ihre Selbstbestimmungsrechte gegenüber Erwachsenen sichert;
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die Kooperation und gemeinsame Nutzung aller Ressourcen – Raum, Zeit, Personal – und damit die Erfahrungs-, Handlungs- und Entscheidungsspielräume von Kindern und Erwachsenen ausweitet.
Wie sind Inhalt und Grenzen der Offenen Arbeit zu kennzeichnen?
Offene Arbeit hat zwei Seiten. Die sichtbare, auf die sie zumeist reduziert wird – räumliche und organisatorische Öffnung, Flexibilisierung von Strukturen –, und die unsichtbare, die den Kern der Sache ausmacht: Reflexion von Denk- und Handlungsmustern, Wandel des pädagogischen Rollenverständnisses, vom Erleben der Kinder her denken, offen für ihr Fühlen und Denken sein, für das, was sie tun, erforschen, erzählen oder zeigen wollen.
Das bedeutet: Der zentrale Inhalt Offener Arbeit ist die Sensibilisierung der Wahrnehmung, die konsequente Achtsamkeit. Und: Veränderungsbedarf aufspüren, Neues erproben, den Kindern und sich selbst neue Erfahrungen ermöglichen.
Versteht man Offenheit so, gibt es keine Grenzen.
Ist Offene Arbeit unter allen Umständen möglich?
Ja.
Öffnung ist unabhängig von der Größe des Hauses oder dem Alter der Kinder. Offene Arbeit ist immer und überall möglich. Einzige Bedingung: Die Erwachsenen müssen es wollen und wagen – sei es als Abteilungs- oder als Hausteam. Gerade diese Bedingung ist häufig am schwersten zu erfüllen, denn:
Gemeinsam heißt, das Team macht sich auf den Weg, alle ziehen am gleichen Strang.
Wollen heißt: aus eigenem Entschluss handeln, weil jede Kollegin/jeder Kollege das Neue ausprobieren will.
Wagen heißt, mutig zu neuen Ufern aufzubrechen. Das bringt immer Überraschungen mit sich. Niemand kann vorhersagen, was passiert.
Was sind Grundvoraussetzungen für Öffnungsprozesse?
Wichtig ist die Klarheit der Orientierung: Wohin soll die Reise gehen?
Diese Reise muss man antreten wollen, sich mindestens auf eine Probefahrt einlassen und sich im Team auf kleine Schritte der Veränderung einigen.
Zweifel, Skepsis, Ängste zu verdrängen oder gar zu bekämpfen, das bringt nichts. Dadurch verschwinden sie nicht. Besser ist, sie ernst zu nehmen und zu bearbeiten. Das bedeutet, die Mitarbeiterinnen und die Sache ernst zu nehmen, denn: Ängste weisen auf Punkte hin, die man beachten und im Auge behalten sollte.
Dennoch: Endlose Debatten erschöpfen nur. Besser ist: ausprobieren und so neue Erfahrungschancen eröffnen.
Irrungen und Verwirrungen
Geht es um Offene Arbeit, werden viele Vorbehalte laut. Die meisten beruhen auf Irrtümern.
So wird „offen“ fälschlicherweise mit offenen Türen gleichgesetzt statt mit dem historischen Kern des Wortes: offen für alle Kinder.
Verbreitet ist auch die Vorstellung und Befürchtung: Offen bedeutet, alle machen, was sie wollen. Es gibt keine Grenzen. Die Kinder rennen den ganzen Tag durchs Haus, die Erzieherinnen sind am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Sowohl in der Praxis als auch in Fortbildungen wird Offene Arbeit häufig auf strukturelle Merkmale reduziert, die aus unserer Sicht gerade nicht das Wichtigste sind. Ganz vorn rangieren die sogenannten Funktionsräume, gefolgt von Angebotsplanung in Kombination mit Fachfrauen und Morgenkreisen. Glauben Sie mir: Offene Arbeit ist anders.
Heißt Offene Arbeit, alle Türen zu öffnen?
Nein. Qualitätsvolle Offene Arbeit findet zeitweise hinter geschlossenen Türen statt, damit Kinder allein, miteinander oder mit Erwachsenen ungestört agieren können. Eine Tür hinter sich zu schließen, Ruhe zu haben, allein zu sein, das ist ein wichtiges Bedürfnis, dem die Offene Arbeit Raum gibt.
Türen zu öffnen bedeutet, die Beschränkung der Kinder auf bestimmte Räume aufzuheben.
Alle verfügbaren Räume werden als Ganzes gedacht, differenziert gestaltet und genutzt. Den Kindern eröffnet sich damit ein umfangreicheres und vielfältigeres Spielfeld, was wiederum ihre Erfahrungs-, Handlungs- und Entscheidungsspielräume erweitert. Sie können sich je nach Bedürfnis und Interesse dorthin begeben, wo sie das tun können, was für sie gerade von Bedeutung ist. Ohne einander zu stören oder zu behindern.
Können Kinder immer machen, was sie wollen?
Nein. Die Entscheidungsfreiräume der Kinder zu erweitern bedeutet nicht, Kindern alle Entscheidungen zu überlassen. Einen Teil der erwachsenen Macht und Dominanz abzugeben, bedeutet nicht, die Verantwortung abzugeben. Die Erwachsenen setzen weiterhin den Rahmen, in dem Kinder sich bewegen. „Bis hierher und nicht weiter“ – das gilt im direkten und im übertragenen Sinne.
Wenn die Erzieherinnen etwas für richtig und wichtig halten, wenn sie wollen, dass Kinder dieses tun und jenes lassen, müssen sie das klar und deutlich sagen, dazu stehen, es vertreten und begründen – gegenüber Kindern, Eltern, Kolleginnen, der Öffentlichkeit. Sie offenbaren damit ihre pädagogischen Positionen, ihr Rollenverständnis, ihr Verständnis von Professionalität.
Auseinandersetzungen im Team über Gebote und Verbote, über Regeln des Hauses und Rechte von Kindern sind ein wesentlicher Teil von Öffnungsprozessen. Sie schaffen Klarheit – auch darüber, dass die Kolleginnen nicht machen können, was sie wollen –, vertiefen das gemeinsame Verständnis und verbessern die Zusammenarbeit.
Müssen wir bei Öffnung alle Kinder im Auge behalten? Wie können wir das schaffen?
Hier liegt eine der Ursachen für Ängste vor Öffnung. „Mit 50 Kindern kann ich mir das vorstellen. Aber mit 150…“ Auch 50 Kinder kann kein Mensch im Auge behalten, und ich bezweifle, dass es mit 25 geht.
In der Offenen Arbeit stellt sich diese Aufgabe nicht oder besser: anders. Bei Öffnungsprozessen geht es nicht um eine Vergrößerung der Anzahl von Kindern, die eine Erzieherin im Blick haben soll. Vielmehr verlagert sich die Verantwortung von der einzelnen Erzieherin auf mehrere Kolleginnen oder das ganze Team.
Kernpunkt im Öffnungsprozess ist daher die Kommunikation und Kooperation im Team. Es gibt Zuständigkeiten für bestimmte Kinder und ihre Eltern – zum Beispiel für Gespräche.
Es gibt Verabredungen darüber, wer sich wann wo aufhält – drinnen und draußen. Und es gibt die Verantwortung für alle Kinder, die sich jeweils im eigenen Blickfeld aufhalten.
Das ist übrigens auch sonst der Fall: Keine Erzieherin kann sich damit entschuldigen, dass ein Kind nicht zu ihrer Gruppe gehört, wenn sie daneben stand, als ihm etwas passierte. Offene Arbeit hilft, diesen Zustand zu verdeutlichen und Gegenmaßnahmen abzusprechen.
Die größte Herausforderung liegt darin, Vertrauen aufzubauen – sowohl in die Kompetenz und Verantwortlichkeit der Kinder als auch in die der Kolleginnen. Dieses Vertrauen kann man nicht voraussetzen, es muss wachsen. Aber wachsen kann es nur, wenn neue Erfahrungen ermöglicht werden, die alte Erfahrungen und Annahmen ersetzen. Das wiederum verweist darauf, Kindern Spielraum für eigene Entscheidungen zu geben, für Wanderbewegungen, Wechsel und freie Wahl – zum Beispiel zwischen drinnen und draußen. Wenn Kinder erweiterte Aktionsmöglichkeiten erhalten, können sie neue Kompetenzen entwickeln und den Erwachsenen zeigen, wozu sie fähig sind.
Sind Funktionsräume das Wichtigste? Soll Öffnung damit beginnen?
Funktionsräume sind weder das Wichtigste noch das Erste, das geschaffen werden muss, wenn Öffnungsprozesse initiiert werden sollen. Schon der Begriff ist problematisch, denn er deutet auf die Funktion von Dingen, nicht auf die Aktionen und das Erleben der Kinder. Darauf aber kommt es an. Und das erfordert ein anderes Vorgehen als das übliche: Funktionsräume von Erwachsenen vorgedacht, vorbestimmt und festgelegt – wie vorher die Gruppenräume.
Sinnvoll ist, das Augenmerk zuallererst darauf zu richten, was die Kinder am liebsten tun und wo sie sich aufhalten, wenn man sie lässt. Denn damit zeigen sie uns, was sie brauchen. Daraus folgt, was räumlich zu bieten und zu verändern ist, welche Verbote und Verhaltensmuster zu überdenken sind.
Einige Beispiele: Wenn Kinder gern hoch klettern und weit springen, dann müssen Bedingungen geschaffen werden, damit sie dies jederzeit und ausführlich tun können. Wenn Kinder ständig rennen wollen, ist es an der Zeit, Rennverbote zu überdenken und Flure als Rennstrecken freizugeben. Wenn Kinder sich gern verkriechen und verstecken, sind Nischen und Höhlen wichtig, in denen sie ungestört und unbeobachtet sind. Wenn die Kinder jede Gelegenheit nutzen, um mit Wasser zu spielen, dann wird es Zeit, Waschräume in Wasserspielplätze zu verwandeln.
In diesen Veränderungen stecken Möglichkeiten, die als Start ins Offene geeignet sind. Sie öffnen den Kindern neue Spielräume und den Erwachsenen ungewohnte Erfahrungsräume. Im Vorfeld und beim Erproben ergibt sich reichlich Diskussionsbedarf, und durch Reflektieren, Ausprobieren und erneut Reflektieren wandeln sich die Sichtweisen. Wetten?